Rilkes Herbstgedicht „Herbsttag“ — Wer jetzt kein Haus hat, baut sich keines mehr…

Das romantische und bedeutende Hersbtgedicht „Herbsttag“ von Rainer Maria Rilke besitzt viele Möglichkeiten der Interpretation. Die Zeilen mögen im ersten Moment etwas düster erscheinen, denn die reflektieren Leben und Vergänglichkeit. Doch es gibt auch anderer Deutungen der Dichterverse. Sammlung, Neubeginn und Zeit des Aufbruchs sind mögliche Lesarten der Bildsymbolik Rilkes.

Parkalle im Herbst

Das Gedicht „Herbsttag“ von Rainer Maria Rilke hat viele Möglichkeiten der Interpretation. Es malt uns ein Bild vor unser geistiges Auge, welches uns wiederum anregt, in diesem Bild eine Bedeutung (Metapher) zu sehen.

Rilkes romantisches [1] Herbstgedicht mag im ersten Moment etwas düster erscheinen – quasi als Reflexion über das Leben und die Vergänglichkeit. Das muss aber nicht so sein. Im Folgenden möchte ich andere,  mögliche Interpretationen geben. Doch zunächst erst einmal die Zeilen des Dichters:

Herbsttag

Herr: es ist Zeit. Der Sommer war sehr groß.
Leg deinen Schatten auf die Sonnenuhren,
und auf den Fluren laß die Winde los.

Befiehl den letzten Früchten voll zu sein;
gib ihnen noch zwei südlichere Tage,
dränge sie zur Vollendung hin und jage
die letzte Süße in den schweren Wein.

Wer jetzt kein Haus hat, baut sich keines mehr.
Wer jetzt allein ist, wird es lange bleiben,
wird wachen, lesen, lange Briefe schreiben
und wird in den Alleen hin und her
unruhig wandern, wenn die Blätter treiben.

(von Rainer Maria Rilke, 1902)

Interpretation der Verse

Übersicht über die Bildsprache

  1. Sommer. – Melancholie. Das Gedicht beginnt mit der Zeile „Herr: es ist Zeit. Der Sommer war sehr groß.“ Diese Zeile kann als eine Aufforderung an Gott oder an eine höhere Macht interpretiert werden, innezuhalten und die Vergänglichkeit des Sommers (als das Leben) zu akzeptieren. Der Sommer wird als groß beschrieben, was darauf hinweist, dass er voller Leben und Energie war.
  2. Spätsommer – Veränderung. In der zweiten Strophe beschreibt der Dichter, wie das Licht des Herbstes sich langsam verändert und die Blätter der Bäume fallen. Dies kann als eine Metapher für den Zyklus des Lebens interpretiert werden, in dem alles seine Zeit hat und letztendlich vergeht.
  3. Spätherbst – Einsamkeit. Die dritte Strophe beschreibt die Stille und das Gefühl von Einsamkeit, die der Herbst mit sich bringt. Der Dichter erkennt die Vergänglichkeit der Zeit und stellt fest, dass es an der Zeit ist, loszulassen und sich auf das Kommende vorzubereiten.
    Der Dichter schlägt vor, dass der Herbst eine Zeit der Erneuerung ist, in der wir uns auf das Wesentliche konzentrieren sollten. Die Zeile „Wer jetzt kein Haus hat, baut sich keines mehr“ kann als Aufforderung verstanden werden, die Prioritäten im Leben zu überdenken und sich auf die Dinge zu konzentrieren, die wirklich wichtig sind.

Zusammenfassend kann das Gedicht als eine Aufforderung verstanden werden, die Vergänglichkeit des Lebens anzunehmen und sich auf das Wesentliche zu konzentrieren. Der Herbst kann als eine Zeit der Erneuerung und Vorbereitung auf die kommende Zeit interpretiert werden.

Die zuversichtliche Deutung der Zeilen

Neben der gängigen Interpretation der Verse könnte man aber genauso gut auch eine positive Sichtweise zu den Gedanken Rilkes herausarbeiten:

  1. Sommer – Licht Auftanken. In der zweiten Strophe wird darauf aufmerksam gemacht, dass der Sommer eine Zeit der Fülle ist, die es bis zum Ende dieser „südlichen Jahreszeit“ aufzunehmen gilt. Wenn eine Zeit da ist, Kraft zu sammeln, sollen wir diese Zeitqualität dazu nutzen. Vollendung ist anzustreben – von dem Sinnvollen, was zu vollenden ist. Das kann sich auch auf ein angefangenes Arbeits-Projekt beziehen.
  2. Spätsommer – Veränderungen mutig Entgegensehen. Veränderungen kündigen sich an. Wir sollten sie nicht ignorieren oder verdrängen.
  3. Wer jetzt kein Haus hat, baut sich keines mehr. Für den kommenden Aufbruch und Neuanfang gilt es Arbeits-Projekte oder Lebensentwürfe, die keine Zukunft haben, hinter uns zu lassen. Auf einer Wanderung sollten wir nur dass Nötigste im Rucksack aufbewahren. Den neuen Weg zugehen, ist eine Entscheidung, welche meist einsam getroffen wird. Unruhe muss dabei nichts negatives sein. Das Schreiben, also das Fixieren des Vergangenen mag manchem von uns eine Hilfe sein – etwa ein Tagebuch zu führen. Damit wird der Kopf frei nach vorn zu denken und nicht ständig der Vergangenheit nachzuhängen. Nur so überstehen wir die Stürme und die Jahreszeiten des Lebens.

Über den Dichter

Rainer Maria Rilke (1875-1926) war ein österreichischer Dichter, Schriftsteller und Kunstkritiker. Er wurde in Prag geboren und studierte in Prag, München und Berlin. Rilke ist bekannt für seine Lyrik, besonders für seine Gedichte in den Sammlungen „Das Stundenbuch“ und „Die Sonette an Orpheus“. Er schrieb auch Prosa, Briefe und Essays über Kunst.
Die frühen Gedichte des Lyrikers sind von romantischen und symbolistischen Einflüssen geprägt, aber im Laufe seiner Karriere entwickelte er einen eigenen Stil, der durch eine präzise Beobachtung der Natur und der menschlichen Psyche gekennzeichnet ist. Rilke reiste viel und lebte zeitweise in verschiedenen europäischen Ländern, darunter Frankreich, Italien und der Schweiz.
Das Leben des Dichters war aber auch von persönlichen Krisen und Konflikten geprägt, insbesondere in Bezug auf seine Beziehungen zu Frauen und seine sexuelle Identität. Er starb 1926 in Valmont, Schweiz, an Leukämie. Rilke wird heute als einer der bedeutendsten Dichter der deutschen Sprache des 20. Jahrhunderts angesehen.


[1] Die Romantik ist eine literarische Stilrichtung, die in der europäischen Literatur und Kunst im späten 18. und frühen 19. Jahrhundert populär wurde. Die Romantik betonte die Emotionen und das Individuum sowie die Schönheit der Natur und der Vergangenheit. Die Romantiker wandten sich gegen die rationalistische Aufklärung und forderten die Freiheit und die Entfaltung der menschlichen Persönlichkeit. Zu den berühmten Vertretern der Romantik gehören in Deutschland Johann Wolfgang von Goethe, Friedrich Schiller und die Brüder Grimm sowie in England William Wordsworth, Samuel Taylor Coleridge und Percy Bysshe Shelley.
Das Gedicht „Herbsttag“ von Rainer Maria Rilke wird oft als Beispiel für die impressionistische Lyrik des frühen 20. Jahrhunderts betrachtet. Die Impressionistische Literatur betont die Wahrnehmung und Erfahrung des Augenblicks und der Natur, und Rilkes Herbstgedicht veranschaulicht diese Merkmale.
Rilkes Verse enthalten aber auch romantische Elemente wie die Beschreibung der Natur und ihrer Schönheit, aber es geht auch darum, die Vergänglichkeit des Lebens zu akzeptieren und den Augenblick zu schätzen. Es ist daher gleichzeitig auch ein Beispiel für die moderne Lyrik, die sich von der sentimentalen Romantik abgrenzt und stattdessen die Komplexität des menschlichen Lebens darstellt.
Insgesamt lässt sich sagen, dass Rilkes „Herbsttag“ eine Mischung aus romantischen und modernen Stilformen aufweist, wobei die Betonung auf der Wahrnehmung des Augenblicks und der Natur liegt.

©2023 Gisela Jcb.
Bildrechte pexels.com – marphin65
[ZP.GJ.2.17]Zählpixel